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Der gelehrte Dichter

Wilhelm Lehmann verkörpert den Typ des Poeta doctus, des gelehrten und reflektierenden Dichters. Das dokumentieren in der maßgeblichen Ausgabe der Gesammelten Werke in acht Bänden die Bände 6, 7 und 8: Essays I, Essays II sowie Autobiographische und vermischte Schriften.

Auf über 1.500 Seiten bieten sie, was Lehmann neben Romanen, Erzählungen und Gedichten in sieben Jahrzehnten – der früheste Text stammt von 1907, der letzte aus Lehmanns Todesjahr 1968 – publiziert hat: Literaturgeschichtliche und philosophische Aufsätze, Nach- und Vorworte zu Texteditionen – Schlegel, Hölderlin, Mörike –, Kritiken, Hinweise zu etablierten oder auch noch zu entdeckenden und nicht gleich wieder zu vergessenden Autoren, Autobiographisches, aber auch Interviews wie das von Siegfried Lenz mit dem 80jährigen Jubilar 1962 geführte Gespräch.

Vor allem aber enthalten diese drei Bände, beginnend mit den 1940er Jahren, eine vollständige Sammlung tiefschürfender Abhandlungen, Vorträge und Reden zur Kunst des Gedichts, Überlegungen zur Ästhetik, Poetologie und Philosophie, aber auch Kommentare zur Kultur und Gesellschaft der Gegenwart.

In der Summe gleichen diese literarischen Stücke einem ungehobenen Schatz. Es gilt, neben dem Künstler Lehmann – dem Romanautor, Erzähler und Lyriker – den Essayisten und Theoretiker zur Kenntnis zu nehmen. Für Lehmann selbst war der Zusammenhang von Kunst und Theorie unabdingbar: „Ein nicht denkender Dichter ist nicht denkbar“ (GW Bd. 6, S. 342).

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Wilhelm Lehmann über Dichterkollegen

Wilhelm Lehmann wurde bislang überwiegend als Naturlyriker und Erzähler wahrgenommen. Doch es lohnt sich, auch sein essayistisches Werk ein wenig näher zu betrachten.
Lehmann war das, was man früher „poeta doctus“ genannt hat: ein gelehrter, hochgebildeter Dichter. Das verlieh ihm Selbstbewusstsein und Urteilsvermögen. Er konnte die Werke anderer emphatisch feiern, wenn sie ihn überzeugt hatten. Er war in seiner Kritik aber auch nicht zimperlich. Polemik und hartes Urteil traf Zeitgenossen (wie z.B. Peter Huchel) ebenso wie etablierte Vertreter der literarischen Tradition.

Dazu ein kleiner Wegweiser zur Einordnung ausgewählter Dichterporträts

Friedrich Hebbel (1813-1863)

Lehmanns ausgeprägtes Literaturverständnis erlauben ihm, beschreibend Kritik zu üben – niemals aus der Pose des Besserwissers, auch wenn die eine oder andere Bemerkung diesen Eindruck vermitteln könnte. Wenn Lehmann über Hebbel schreibt, er sei den weitaus größten Teil des Lebens ohne ihn ausgekommen und seine Dramen seien für ihn zum Erbrechen, kommt dieser Ausspruch zwar einem vernichtenden Urteil gleich. Diesen Eindruck schwächt er aber sogleich mit dem Hinweis ab, dass er einigen Gedichten „freudigen Herzschlag und beruhigtes Atmen“ verdanke. Vielleicht dachte Lehmann dabei an Gedichte wie dieses:

Herbstbild
Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.
O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält,
Denn heute löst sich von den Zweigen nur,
Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.

Auch erkennt er an, dass Hebbels Kritische Schriften „eine überwältigende Einsicht in das Wesen des geistigen Prozesses, in die Eigentümlichkeit des Dichterischen, gewähren.“ Geistige Nähe zu ihm findet Lehmann jedoch nicht.

Clemens Brentano (1778-1842)

Ganz anders seine Einstimmung in Leben und Werk von Clemens Brentano. Hier zündet Lehmann ein sprachliches Feuerwerk, das an vielen Stellen erahnen lässt, wie vertraut ihm „der schöne Jüngling“ ist. Lehmann malt das anrührende Bild eines leidvoll geprüften Menschen. Kritische Anmerkungen finden sich sparsam, am Ende in der Frage verpackt: „Hatte er recht, als er von sich sagte, er sei mehr der Gegenstand eines Gedichts als ein Dichter?“

Achim von Arnim (1781-1831)

Zu Achim von Arnim fallen Lehmann ganze fünf Seiten ein, bei Brentano sind es über dreißig. Sein Urteil ist harsch: „Mit Recht nennt man Arnim ganz unliterarisch, so unliterarisch, wie es ein Volkslied oder Großmütterchens Märchen sind“. Wenn Brentano das „Wunderhorn“ gesungen haben wolle, zöge Freund Arnim es gelesen vor. Arnims Erzählungen vergleicht er mit einem unabgeschlossenen Notizbuch, mit einer Ansammlung unterschiedlichster Äußerungen des Lebens, worin sich Arnims Volkstümlichkeit widerspiegele.

Theodor Storm (1817-88)

Treffsicher arbeitet Lehmann Stärken und Schwächen „epischer und lyrischer Art“ in Storms Novellen und Gedichten heraus. So nennt er den „Kleinen Häwelmann“ „ganz vortrefflich“, tut hingegen „Die Regentrude“ als „gedankliche Spielerei“ ab. In „Die Söhne des Senators“ erkennt er „happy-end-Strömungen“ und „Reste von Innig-Sinnig-Minnigem“ sowie eine Rückkehr in eine überlebte „Butzenscheibenromantik“. Und so manches Bild aus der Meeresszenerie, von Storm häufig benutzt, sei ihm, besonders in der Novelle „Schweigen“, zur „Ansichtspostkarte eines Badeortes“ geraten. Immer aber um Ausgleich bemüht, nennt Lehmann Storm einen Künstler, sieht in ihm einen Meister der Naturdarstellung. Ein wenig gönnerhaft, kann er sich dennoch eine Spitze gegen die Stormsche Lyrik nicht verkneifen: Die Verbreitung seiner Gedichte – hier „Die Stadt“ und „Abseits“ – durch den Lokalpatriotismus würde ihnen so wenig schaden wie den Blumen am Wegrand der Chausseestaub.


Die Zitate und Auszüge finden sich in Band 6 der achtbändigen Ausgabe seiner Gesammelten Werke, die seine von tiefem Respekt gegenüber der Schöpfung zeugenden Gedichte, aber auch seine Romane, seine Essays über Poetik und Märchen sowie Dichterporträts enthalten (in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach a.N. hrsg. von Agathe Weigel-Lehmann, Hans D. Schäfer, Reinhard Tgahrt [Bd. 6-8] und Bernhard Zeller. Stuttgart 1981 ff.).

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Literaturhinweis

Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden

Band 6: Essays I
Hg. von Wolfgang W. Menzel nach Vorarbeit von Reinhard Tgahrt, Stuttgart 2006.
Mit folgenden Rubriken: Dichterporträts; Bewegliche Ordnung; Kunst des Gedichts; Poetische Urteilskraft; Der Laie und die Philosophie; Im Anfang war das Märchen.

Band 7: Essays II
Hg. von Wolfgang W. Menzel nach Vorarbeit von Reinhard Tgahrt, Stuttgart 2009.
Mit folgenden Rubriken: Natur und Landschaft; Oskar Loerke; Gedenkblätter; Kritische Zeitgenossenschaft; Einfälle; Glossen; Einladungen; Auskünfte; Zwei Reden.